Until Dawn

„Until Dawn“ nimmt uns mit in die klischeebesetzte Welt des Teenie-Slasher-Films, einer Unterkategorie des Horrorfilms, bei der eine Gruppe archetypischer Teenager im Mittelpunkt steht, die durch gewaltstarke Ereignisse im Laufe der Handlung dezimiert wird. In unserer Videospiel- Adaption dieses Genres gestaltet sich das folgendermaßen: Acht befreundete Teenager versammeln sich zum alljährlichen Wintertreffen in einer Villa auf dem Gipfel des verschneiten Mount Washington. Dieser hat alles, was das Horrorherz begehrt: Zu der Villa gesellt sich ein verlassenes Sanatorium, eine heruntergekommene Berghütte, ein Funkturm, der nur manchmal funkt sowie ein Labyrinth verlassener Bergbaustollen. Als wäre die Umgebung nicht schon unheimlich genug, wirft die Vergangenheit einen weiteren Schatten auf diese Szenerie. Es ist genau ein Jahr vergangen, seit Josh, einer der versammelten Teenager, auf dem Mount Washington seine beiden Schwestern Hannah und Beth durch eine Verkettung unglücklicher Ereignisse verloren hat. Da die Ereignisse Folge des letzten alljährlichen Wintertreffs waren, hält er es für angemessen, ihrer ein Jahr später zu gedenken, und bei der Gelegenheit gleich eine große Party zu feiern. Diesmal ohne Hannah und Beth. Und hier sind wir nun: Acht abwechselnd spielbare Charaktere, festgesetzt auf einem abgeschiedenen Gipfel ohne Empfang und ohne Strom, die noch gar nicht wissen, dass sie in den nächsten Stunden ihren schlimmsten Albträumen begegnen und uns nebenbei helfen werden, die erschreckende Vergangenheit des Berges Stück für Stück aufzudecken. Und Hannah und Beth zu finden. Oder auch nicht.

Von Schmetterlingen und Psychiatern

Die Entwickler beschreiben „Until Dawn“ als einen interaktiven Horrorfilm. Einerseits besteht es aus einem Abwechseln von Videosequenzen und Kameraeinstellungen, in denen man sich als gerade aktuelle Hauptfigur durch die Umgebung steuern kann. Die Perspektive ist dabei vorgegeben. Andererseits spielt „Until Dawn“ mit dem sogenannten Schmetterlings-Effekt. Das heißt, dass jede Entscheidung, die im Spiel getroffen wird, Konsequenzen für den weiteren Handlungsverlauf hat. Entscheidungen sind für dieses Spiel das, was Schusswaffen für Ego-Shooter bedeuten. Entscheiden wir uns beispielsweise als Chris auf einen Vogel zu schießen, wird der Schuss ein Eichhörnchen hochschrecken lassen, welches Sam verletzt und dadurch in einer weiteren Szene beim Wegrennen behindert. Komplexe Verschachtelungen wie diese sorgen dafür, dass das Spiel unvorhersehbar bleibt. Allerdings fehlt auch jede Bewertung der Handlungen. Am Ende eines jeden der 10 Kapitel reden wir mit einem Psychoanalytiker, der psychologische Tests a la Rorschach mit uns durchführt. Die dafür verwendete First-Person-Perspektive lässt jede Distanz zwischen uns und dem Spiel dahinschmelzen. Aber auch hier gilt: wer auf eine andere Reaktion als ein sorgfältig gewähltes „Interessant“ hofft, wird enttäuscht.

Erlösung oder Untergang

Bedächtig tasten man sich im Schleichschritt durch Schnee, Stollen oder Sanatorium, ständig von dem Gedanken gejagt, hinter der nächsten Biegung einem Quick-Time-Event gegenüberzustehen. Bei Quick-Time-Events kommt es darauf an, so schnell wie möglich eine bestimmte Taste zu drücken, anderenfalls sind die Folgen oft verheerend: Ein Fehler und der Charakter stirbt, fast immer so anschaulich wie möglich.

Der strenge Umgang mit den Spielern ist nur ein Mittel von vielen um die Spannung konstant hoch zu halten. Das nächtliche Setting, die befremdlichen Orte, ein ausgezeichneter Soundtrack und die filmreifen Einstellungen zwingen den Spieler förmlich, in dieses Paradies für Horrorfans einzutauchen, welches kein Klischee auslässt. Auch die Tatsache, dass sämtliche Charaktere per Motion-Capture-Technik von richtigen Schauspielern gespielt werden, verdichtet die Atmosphäre. Den Regeln des Teenie-Slashers folgend werden abgetrennte Köpfe und Gedärme grotesk in Szene gesetzt. Und immer wieder dieser Entscheidungszwang. Nie ist wirklich klar, ob die verfolgte Spielweise in den Untergang oder die Erlösung führt. Und überhaupt: Erlösung wovon? Die andauernde Unsicherheit wirft den Spieler in ein Netz der Verwirrung und setzt vor allem psychologisch zu. Chapeau!

(K)eine Frage der Moral

Die verschiedenen Zeitstränge lassen uns immer wieder rätseln. Während wir versuchen, alle Charaktere am Leben zu halten, kommen wir dem Geheimnis des Berges immer weiter auf die Spur. Wer aber versucht, das Überleben durch möglichst moralische Entscheidungen zu sichern, wird schnell in die Irre geführt. Mit unklaren Aussagen suggeriert uns der Psychiater, dass diese Welt nicht nur optisch, sondern auch moralisch grau und nicht schwarz oder weiß ist. Versuchen man eine Figur vor dem Tod zu retten, kann es sein, dass gleich zwei aus dem Spiel verbannt werden. Flüchtet man, um die eigene Haut zu retten, überleben beide. Der Ausgang hängt von unseren Entscheidungen ab, ist aber an keine Ethik gebunden. Das macht neugierig darauf, das Spiel wieder und wieder spielen zu wollen, allerdings stellt man sich mehr als einmal die Frage, wer man dabei sein möchte. Darauf gibt es keine klare Antwort, nachts sind alle Katzen grau. Erscheint der Abspann stellt sich das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, ein und das Einzige, was dem Abhilfe schaffen kann, ist der Neustart.

Fazit

Zeit, Realität und Perspektive werden in „Until Dawn“ andauernd auf den Kopf gestellt.  Der Plot, lediglich bestehend aus einer Aneinanderreihung sämtlicher Horrorklischees, wird aufgewertet durch die einzigartige Spielweise, die aber jede Vorstellung von Moral absichtlich auf den Kopf stellt. Sexuelle Anspielungen bleiben verbal, wenn auch häufig, Gewalt wird abrupt und ästhetisiert in Szene gesetzt. „Until Dawn“ verunsichert den Spieler auf jeder erdenklichen Ebene und ist deshalb auf keinen Fall für Spieler unter 18 Jahren geeignet.

Erwachsene Fans des Genres finden in „Until Dawn“ eine interaktive Version ihrer Lieblingsfilme. Wer Teenie- Horror-Filmen nichts abgewinnen kann, wird sich aber nur schwer ins Spiel hereinversetzen können.

Eine Rezension von Robin Josh Klüber // Sommersemester 2018